Verschwiegen, vergessen, instrumentalisiert: Opfernationalismus und Erinnerungskultur in Ost und West
Selbst-)Viktimisierung ist trendy – und das global. Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa, Zentralasien und Ostasien weisen trotz Distanz Gemeinsamkeiten auf. Der Erinnerungsboom in den späten 90er-Jahren und frühen 2000er-Jahren, der vor allem zur Institutionalisierung der Holocaust-Erinnerung im westeuropäischen und US-amerikansichen Raum führte, wurde tonangebend für globale Erinnerungskulturen. Die Festigung der Holocaust-Erinnerung führte zur Popularität verschiedenster Formatvorlagen (Ästhetik, Sprache, Rituale) für die Erinnerung an andere historische Gewalterfahrungen. Dabei gerät in vielen Ländern, wo große Teile der Bevölkerung am Holocaust mitbeteiligt waren, die Erinnerung an die Kollaboration mit den Nazis in den Hintergrund, allen voran im östlichen Europa, wo die Repressionen während des Stalinismus den größten Raum im kollektiven Gedächtnis einnehmen. Der Historiker Jie-Hyun Lim bezeichnete diese Fixierung auf Formate der Holocaust-Erinnerung und die damit einhergehende Betonung des eigenen Opferstatus als Opfernationalismus (Victimhood Nationalism). Ein zentraler Bestandteil des Opfernationalismus ist die Wende zum viktimologischen Opferbegriff: „When the unfortunate victims who died unjustly transform into righteous martyrs who voluntarily sacrificed themselves fort he just cause, the gate to victimhood nationalism opens“, wie Lim schreibt. Weil die Opfer historischer Gewalt verstorben sind und ihre Stimmen nicht mehr erheben können, werden sie zu einer Rohmasse für Geschichtspolitik und Nationalismus.
In der Übung beschäftigen wir uns mit diesen globalen Erinnerungstrends aus vergleichender Perspektive. Wir werden die Möglichkeiten und Grenzen des „Holocaust Template“ in der Erinnerungskultur erfassen und die Zuschreibung von Täter- und Opferidentitäten unter die Lupe nehmen. Die Übung ist an Jie-Hyun Lims Buch Victimhood Nationalism (2025) orientiert. Die Orientierung am Konzept des Opfernationalismus dient zeitgleich als eine Einführung in die theoretischen und praktischen Ansätze der Memory Studies und des kollektiven Gedächtnisses.
Studienleistung: Aktive Mitarbeit, Kurzessay. Die Bereitschaft, englischsprachige Texte zu lesen, wird vorausgesetzt. Kenntnisse osteuropäischer oder (zentral-)asiatischer Sprachen sind nicht notwendig.
Prüfungsleistung: Je nach Modul Klausur oder Hausarbeit.
Übung
Mittwochs, 12 Uhr c.t. - 14 Uhr
Erste Sitzung:
15.10.2025
Letzte Sitzung:
04.02.2026
Adenauerallee 4-6, 53113 Bonn
Raum 3.010
Literatur
- Jie-Hyun Lim: Victimhood Nationalism. History and Memory in a Global Age (2025).
- Paul Williams: Memorial Museums. The Global Rush to Commemorate Atrocities (2007).